Die Stunde war fast vorbei. 32 Schüler saßen über ihre Arbeitsbücher gebeugt und es herrschte eine seltene Stille. Angela Schneiders, Deutsch und Musiklehrerin, saß vorne an ihrem Pult und sah immer wieder über die Köpfe ihrer Schüler. Wieder einmal blieb ihr Blick an Tanja sitzen. Das 16-jährige Mädchen saß in der letzten Reihe ganz links am Fenster. Angela beobachtete das Mädchen schon seit einer ganzen weile. Sie war sehr Launisch. Sie konnte im einen Moment allerbeste Laune haben, rumscherzen und Lachen und nur wenige Minuten später konnte sie depressiv sein. Leider kamen diese Schwankungen sehr häufig vor. Allerdings in letzter zeit sah man sie gar nicht mehr Lachen. Still saß sie an ihrem Platz und beteiligte sich nicht am Unterricht. Wenn sie etwas gefragt wurde hatte sie selten eine Antwort da sie den vorherigen verlauf des Unterrichtes nicht verfolgt hatte. „So, Hausaufgaben gibt es heute keine. Aber denkt morgen an die Bücher“ nach und nach verschwanden alle Schüler nach draußen. Tanja blieb an ihrem Platz sitzen. Geistesabwesend malte sie in ihrem Heft herum. Ohne das sie etwas bemerkte trat Angela vor sie. Erst als die Lehrerin direkt vor ihr stand sah sie erschrocken auf und klappte ihr Heft zu doch Angela hatte die Blitze gesehen die über das bild verteilt waren. „Was los?“ fragte sie auf eine art und weise die Tanja zu gut kannte und auch liebte. Sie mochte ihre Klassenbetreuerin und wünschte sich oft ihr alles erzählen zu können doch das war unmöglich. „Nix“ antwortete Tanja und sah wieder auf ihr geschlossenes Heft. Noch ein paar Minuten spürte sie den Blick ihrer Lehrerin doch als zwei ihrer Klassenkameraden zurück in die klasse kamen wandte sie sich ab. Tanja sah wieder hoch. Angela trug eine Schwarze, weite Hose die bis zu ihren Knöcheln gingen und darüber ein Schwarzes, weites Shirt. Ihre Langen, braunen Haare waren wie immer mit einer Spange im Nacken zusammen gehalten. Alles war ihr so bekannt und sie mochte es. Das war ihre Lehrerin. Als Tanja am Nachmittag nach Hause kam war ihr Stiefvater nicht da. Im Flur stand noch immer das Bild ihrer Mutter auf der Kommode. Als sie daran vorbei ging klappte sie es um. In ihrem Zimmer warf sie ihren Rucksack in die ecke und setzte sich an ihren Schreibtisch. Nachdem sie sicher war das er nicht jeden Moment kommen würde, dann öffnete sie wieder ein Mal den Briefumschlag der Inzwischen stark verknittert war. Bereits um acht und ging sie ins Bett. Eine Stunde später öffnete sich ihre Zimmer Tür. Nikolai betrat leise das Zimmer seiner Stieftochter. Langsam ging er auf ihr Bett zu und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Tanja rührte sich nicht obwohl sie wach war. Eine weile streichelte er sie bevor er sich erhob und das Zimmer wieder verließ.
Angela saß mit gesenktem Kopf an ihrem Schreibtisch und korrigierte Arbeiten der 11.Klasse. Endlich, nach über zwei Stunden, kam die letzte dran. Es war Tanjas Arbeit. Bis zur vierten Aufgabe hatte sie eine ganze Menge geschrieben. Angela korrigierte die vielen Rechtschreibfehler, war jedoch mit dem Inhalt sehr zufrieden. Plötzlich stutzte sie. Was sie jetzt las stand auf einem Schmierblatt das zwischen den Seiten der Arbeit gelegen hatte. Sie legte ihren Roten Füller bei Seite und las das was da stand noch zweimal durch bevor sie es glauben konnte.
„Immer wieder kommt er sieht mich an fasst mich an finde ich es schön?
Er sagt… …es muss so sein …es ist richtig so …das hätte sie so gewollt …ich darf nix sagen …es ist ein Geheimnis
Wie lange ertrage ich das schon? Ich hab vergessen wann er begann Oder hab ich es verdrängt? Was ist noch war? Was meine Erinnerung?
Hört er jemals auf? Wird es jemals jemand merken? Was wird dann passieren? Werde ich bestraft?“
Was bedeutete das? Angela konnte sich keinen reim darauf machen und beschloss Tanja am Montag zu fragen. Das bevorstehende Wochenende würde sie erst einmal mit ihrem Mann und ohne Kinder genießen. Da ihr Aupairmädchen überstürzt nach Hause musste hatten sie momentan keins und da sie und ihr Mann Arbeiteten fuhren die beiden Kinder für zwei Wochen zu ihren Großeltern aufs Land.
„Es sind nur noch vier Wochen bis zu den Sommerferien. Warum bekommen wir jetzt noch einen neuen Geschichtslehrer?“ Tanja spitzte die Ohren als Jessica und ihre Clique sich neben ihr Unterhielten. „Keine Ahnung. Hoffen wir mal das er gut aus sieht“ sie begannen zu Kichern und Tanja verdrehte die Augen. Nur wenige Minuten später öffnete sich die Tür und Nikolai betrat den Raum. „Guten Morgen, da der liebe Kollege Schnepf sich das Bein gebrochen hat werde ich sie bis zu den Ferien Unterrichten.“ Jessica und ihre Mädels begannen zu Tuscheln und Tanja verdrehte erneut die Augen. Nikolai sah immer wieder zu ihr herüber doch sie wich seinem Blick aus. In der darauf folgenden Stunde hatten sie Musik. Nach der Stunde bat Angela Tanja noch kurz dazubleiben. Nur widerwillig blieb das Mädchen. „Ich habe am Freitag noch eure Arbeiten Korrigiert. Deine war sehr gut. Die letzte Aufgabe hast du nur nicht geschafft.“ „Keine Zeit mehr“ antwortete Tanja knapp. „Und was ist das hier?“ Angela hielt ihr das Blatt hin. Tanja starrte entsetzt darauf. Jetzt wusste sie wieder wo es war. Sie hatte es während der Arbeit geschrieben. Ansonsten hätte die zeit vielleicht sogar gereicht. „Haben sie das gelesen?“ Angela nickte. Ohne ein Wort nahm Tanja das Blatt und verließ den Raum. „Was ist das?“ „Ein Gedicht“ „Und wovon Handelt es?“ Tanja antwortete nicht und Nikolai nahm ihr das Blatt weg. Nach dem er es gelesen hatte sah er sie wütend an. „Was soll das? Hat das jemand gelesen?“ „Ja die Schneiders. Ich hab es in einer Arbeit vergessen“ „Bist du noch ganz Dicht? Wenn die sich jetzt etwas daraus zusammen bastelt und das alles herauskommt werde ich verhaftet und du kommst ins Heim. Du glaubst doch nicht im ernst das du bei mir bleiben darfst wenn sie herausfinden was los ist. Willst du wirklich in ein Kinderheim? Wir waren doch dort und du hast gesehen wie es da zugeht. Willst du das wirklich?“ Tanja schüttelte den Kopf. „Du kannst es wieder gut machen.“ Er gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen was er wollte und Tanja nickte ergeben.
„Ich warne dich, hör auf solche Sachen zu schreiben. Du weißt das sie so nicht wahr sind und das dass für uns beide sehr gefährlich werden kann. Und wir kennen uns nicht. In der Schule bin ich dein Lehrer und nichts anderes ist das klar?“ Tanja nickte nur und machte sich auf den Weg zur Schule. Nikolai fuhr kurz nach ihr Los. „Ist dir etwas an Tanja aufgefallen?“ Nikolai sah auf. „Nein warum?“ „Ich habe ein Gedicht gefunden und Vermute das sie Missbraucht wird.“ Nikolai starrte vor sich hin. „Das glaub ich nicht. Sie ist in einem Schwierigen Alter.“ Angela spürte das er mit ihr nicht reden wollte und ließ es gut sein. Als Tanja am Nachmittag nach Hause kam wartete er bereits auf sie. Hast du Fr. Schneiders irgendwas erzählt?“ „Nein“ rief Tanja sofort doch er glaubte ihr nicht. „Aber sie hat verdacht geschöpft. Sie hat mich heute darauf angesprochen.“ „Aber ich hab ihr nix gesagt“ obwohl ich das gerne getan hätte dachte sie. „Lüg nicht“ Nikolai holte aus und Schlug sie auf die Rechte Wange. Tanja biss die Zähne zusammen. Sie wusste das sie ihn mit Tränen nur noch Wütender machte. „Ich bin deiner Mutter wirklich sehr Dankbar. Lässt sie mich einfach hier sitzen mit ihrer Göre. Weißt du was ich am liebsten tun würde?“ fragend und stink sauer sah er sie an. Tanja schüttelte den kopf obwohl sie es sich bereits denken konnte. „Wieso schlag ich mich eigentlich mit dir rum? Ich könnte dich einfach ins Heim stecken. Schließlich bin ich nicht dein Vater.“ Tanja stand vor ihm. „Aber dann hast du niemanden mehr der dir einen Runterholt wenn du pfeifst“ schrie sie und war im nächsten Moment über sich selber erschrocken. Nikolai sah sie an bevor er erneut zu schlug. Und zwar nicht nur einmal. Tanja schrie vor schmerzen was ihn nur noch mehr aufregte. „Los geh darüber“ er deutete ins Wohnzimmer. Langsam ging Tanja hinüber, die Arme schützend vor dem Kopf erhoben. Er öffnete seine Hose und verlangte von ihr das sie sich ebenfalls auszog.
Angela sah besorgt zu Tanjas Platz. Es war jetzt noch drei Woche bis zu den Sommerferien und seid Di war Tanja nicht mehr im Unterricht gewesen. Keiner wusste etwas von ihr und bei ihr zu Hause ging niemand ans Telefon. Sie beschloss nach dem Unterricht zu Tanja zu fahren und mit ihrer Mutter zu sprechen.
Tanja stand am Fenster und sah hinaus. Ihr Unterleib schmerzte, ebenso die Verletzungen im Gesicht. Sie Trug eine Schwarze Jogginghose und darüber einen Weiten Pulli. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen. Nikolai hatte ihr verboten aus dem Haus zu gehen. Wenn er zu Hause war schrie er sie an, schlug sie und zwang sie für ihn dinge zu erledigen. Die ganze zeit machte er ihr schwere Vorwürfe, das sie schuld an allem sei. Daran das ihre Mutter abgehauen sei und daran das er sie nun hatte. Tanja versuchte ihm alles recht zu machen doch das war gar nicht so einfach. Er hatte ihr auch verboten weiter Gedichte zu schreiben doch sie konnte nicht anders. Sie schrieb alles auf und versteckte die Zettel gut damit er sie nicht fand. So schaffte sie es wenigstens ansatzweise alles zu ertragen. Immer wieder dachte sie an ihre Lehrerin. Ob sie sich wohl sorgen um sie machte? Würde sie überhaupt merken das sie nicht da war? Würde sie merken das sie das Gedicht mit Absicht in die Arbeit gelegt hatte? In ihrer Erinnerung sah sie sie, wie sie vor der Klasse stand. Mit ihrer Typischen Handbewegung die Haare zurück warf, wie sie auf dem Tisch saß und sich über Julius aufregte, wie sie lachte und wie sie traurig vorne saß. Sie hatte Angela oft beobachtet, vor allem während der Arbeitsphasen denn dann saß sie am Lehrerpult und war mit ihren Gedanken wo anders. Plötzlich sah sie ein Auto die Straße hochkommen. Es war ein Silberner VW Sharan und er war Tanja nur zu bekannt. Sie beobachtete wie Angela aus dem Wagen stieg und am Haus hoch sah. Schnell wich Tanja zurück. Ihre Lehrerin durfte nicht merken das sie da war obwohl sie sich eigentlich wünschte hier raus zu kommen. Zitternd saß sie auf ihrem bett und wartete auf das Klingeln der Haustür. Als sie es hörte zuckte sie zusammen. Angela wiederholte das Klingeln mehrfach doch es öffnete niemand dabei war sie sich sicher das sie Tanja am Fenster gesehen hatte. „Tanja bitte mach auf. Ich weiß das du da bist und ich weiß das er dich zwingt hier zu bleiben.“ Angela hatte zwar keine Ahnung wer er war doch sie behauptete das jetzt einfach mal so in der Hoffnung Tanja würde Reagieren. Doch Tanja reagierte nicht. Schließlich gab Angela auf und machte sich auf den weg nach unten. Plötzlich stand sie vor Nikolai. „Nikolai was tust du den hier?“ „Hier wohnen… also ich meine hier wohnt Tanja und ich wollte schauen was mit ihr ist.“ Er lächelte sie an und ging an ihr vorbei. Angela sah ihm verdutzt nach. Er drehte sich noch zwei Mal um. Angela ging nach oben, hörte jedoch ganz genau darauf was oben passierte. Sie hörte einen Schlüssel und kurz darauf wurde eine Tür zugeschlagen. Konnte es sein das er Tanjas Stiefvater war? Nein, er hätte doch bestimmt etwas gesagt. Auf der anderen Seite war er grade sehr nervös geworden und er war ihr ausgewichen wenn sie über Tanja sprach. „Thomas, kann ich dich kurz sprechen?“ Der angesprochene sah von seinem PC hoch. „Ja natürlich. Was gibt’s den?“ „Kannst du mir etwas über Nikolai erzählen? Du kennst ihn doch schon länger.“ Angela setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches. Der Verwaltungsvorsitzende sah sie an. „Was ist los Angela? Irgendwas ist doch da im Busch.“ Angela grinste. „Tanja aus der 11. Klasse ist seit einer Woche nicht in der Schule.“ „Aber das ist doch nicht ungewöhnlich. Sie wird vermutlich eine Grippe haben oder ähnliches.“ „Nein, ich war gestern bei ihr. Ich weiß das sie da war aber sie hat nicht geöffnet. Außerdem habe ich das hier in einer ihrer Arbeiten gefunden.“ Sie reichte ihm eine Kopie des Gedichtes. „Ja und?“ „Das hört sich sehr danach an das sie missbraucht wird.“ „Willst du behaupten Nikolai missbraucht eine unserer Schülerinnen? Das kann nicht dein ernst sein. Mal angenommen wir verstehen das so wie es hier steht dann ist das gar nicht möglich den das scheint, wenn überhaupt, schon länger zu gehen und die beiden kenne sich erst seit einer Woche.“ Ernst sah er seine Kollegin an. „Außerdem kann es auch etwas völlig anderes bedeuten“ er gab ihr das Blatt zurück und wandte sich wieder seinem PC zu. „Und was hast du jetzt vor?“ „Nichts.“ Angela sah ihn entsetzt an. „Angela, halt dich da raus. Es sind noch drei Wochen bis zu den Sommerferien. Wir können es uns nicht leisten das Nikolai suspendiert wird nur auf einen Verdacht hin der nicht mal begründet ist. Außerdem kenne ich Tanjas Mutter gut. Sie hätte schon längst etwas Bemerkt. Sie würde nicht zulassen das Tanja etwas passiert. Seit der Geschichte damals achtet sie sehr darauf das ihre Tochter gut aufwächst.“ „Welcher Geschichte?“ Angela wurde hellhörig. Thomas drehte sich leicht genervt um. „In der dritten Klasse behauptete Tanja sie würde missbraucht werden. Von ihrem Stiefvater. Die Polizei vernahm sie und sie zeigte ihnen auf anfrage Bilder die ein Psychologe untersuchte. Er meinte sie hätte nur eine äußerst Lebhafte Phantasie. Dem Mann ihrer Mutter zerstörte sie damit fast das Leben. Und damit ist die Sache erledigt. Also halt dich daraus und kümmere dich um deine Schüler die anwesend sind.“ Angela erkannte den Freund und Kollegen nicht wieder. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Büro und ging Gedanken Versunken hinüber in den Musiksaal. Dort setzte sie sich hinter ihren Schreibtisch der unter den Bergen von Noten, CDs, Heften und ähnlichem kaum zu erkennen war. Hatte sie sich so getäuscht? Spielte Tanja das alles nur? Nein das konnte nicht sein. Über ihren Überlegungen hätte sie fast den beginn ihres Unterrichtes Verpasst.
Es war Kurz nach halb zwölf als sie endlich im Auto saß. Leise Musik kam aus dem Radio und sie war Todmüde. Die Konferenz hatte ewig gedauert. Seit dem Gespräch mit Thomas grübelte sie nur noch mehr über Tanja nach und versuchte alles zusammen zu setzten. Sie war sich Sicher das mit Tanja tatsächlich etwas war, allerdings wusste sie nicht was sie tun sollte.
Eine sehr traurige Geschichte die aber einen wahren Kern hat. Solche Dinge passieren sehr häufig und es wird den Betroffenen nicht geholfen, weil die Menschen nicht hin sehen bzw. nicht sehen wollen, weil sie Angst haben. Es passiert jeden Tag und viel zu wenig wird aufgedeckt. Oft kommen Mißhandlungen und Mißbrauch erst an den Tag, wenn es zu Todesfällen kommt. Ich fände es gut, wenn du die Geschichte weiter schreibst. Vielleicht hilft sie anderen ihre Umgebung besser wahr zu nehmen und Zeichen zu setzen, wenn etwas Auffällig ist. Vorallem aber interessiert mich, wie deine Geschichte aus geht.